Harry Bingham: Fiona. Als ich tot war

Romane, Spannung

Fiona Griffiths ist die schrägste Protagonistin, die mir bisher untergekommen ist. Und um es gleich vorwegzunehmen: Mich hat diese warmherzige, sensible, bockige und völlig durchgeknallte Heldin NICHT an Lisbeth Salander erinnert! Sie ist unkonventionell, intelligent und eine Kämpfernatur – aber da hören die Vergleiche auch schon auf. Die Figur der Fiona Griffiths ist faszinierend, psychologisch genial gezeichnet und in ihrer Vielschichtigkeit so eigenständig, dass ein platter Vergleich mit anderen ungewöhnlichen Heldinnen der Krimiszene ihr einfach nicht gerecht wird.

Im Alter von drei Jahren im Auto eines Waliser Großkriminellen ausgesetzt und prompt adoptiert, erkrankte Fiona als Teenager so schwer, dass sie lange Jahre in der Psychiatrie verbringen musste, bis sie endlich wieder ins Leben (das sie gelegentlich als „Planet Normal“ bezeichnet) fand. Die niederschmetternde Diagnose lautete: Cotard-Syndrom. Menschen, die unter dieser Psychose leiden, erleben eine schwerwiegende Störung ihres Selbstgefühls, die ihnen bei starker Ausprägung sogar suggeriert, sie seien tot. Harry Bingham hat diese Krankheit nicht einfach aus der Luft gegriffen und dann ein wenig recherchiert, sondern seine Idee basiert auf seinen Einblicken in das Leben und Leiden einer betroffenen Patientin.

Mit ihren meisterhaft entwickelten Charakterfacetten ist Fiona Griffiths eine der faszinierendsten Protagonistinnen, die die moderne Thrillerszene gegenwärtig zu bieten hat

Es ist aber genau diese Störung, die die Figur der Fiona Griffiths so spannend macht. Denn eine Frau, die schon bei ganz unspektakulären Vorgängen wie Klamotten kaufen in Bedrängnis gerät und bei Gefühlsregungen des menschlichen Miteinanders, die andere als selbstverständlich voraussetzen und erwarten, auf erlernte Techniken und Vermutungen angewiesen ist, erlebt ihren Alltag ständig als Abenteuer. Umso nachvollziehbarer ist es, dass Fiona – die Polizistin – nach besonders fordernden Tagen den Geräteschuppen ihres Gartens aufsucht, um ein wenig Cannabis zu genießen, das sie für den Eigenbedarf dort angebaut hat. Nachvollziehbar, aber für den Leser nicht minder überraschend sind auch andere Aspekte dieser Heldin mit einer mysteriösen Vergangenheit. Trotz ihrer Dysfunktionalität – oder vielleicht sogar deswegen – ist Fiona keine deprimierende Figur. Ganz im Gegenteil, ihre Schwächen machen sie sympathisch, dabei sind ihre blitzschnelle Auffassungsgabe, ihr trotziges Beharren auf Gerechtigkeit und ihr unerschütterliches Ringen mit ihrem Schicksal nur einige von vielen meisterhaft entwickelten Charakterfacetten, die diese junge Frau zu einer der faszinierendsten Protagonistinnen macht, die die moderne Thrillerszene gegenwärtig zu bieten hat.

Vom harmlosen Betrugsdelikt zum mörderischen Coup

Schon in den ersten beiden Bänden dieser furiosen Serie erfährt der Leser, dass Ermittlerin Fiona Griffiths aufgrund ihrer psychischen Störung eine besondere Beziehung zu Toten hat. Dementsprechend gelangweilt sitzt sie an ihrem neuesten Fall, bei dem sie lediglich einen buchhalterischen Betrugsdelikt aufzuklären hat. Doch im Laufe ihrer Ermittlungen in diesem recht unspektakulär anmutenden Verbrechen stößt sie auf die erste Tote, die unter rätselhaften Umständen ums Leben kam: Sie ist verhungert. Was ihre Kollegen schnell als Selbstmord abtun, ist für Fiona ein Verbrechen mit einem Schuldigen, das sie zu sühnen trachtet. Noch während sie in diesem ersten Fall ermittelt, ereignet sich ein zweiter, diesmal eindeutig mit dem Betrugsdelikt zusammenhängender Mord. Fionas Ermittlungseifer ist vollends entfacht. Sie entdeckt immer deutlichere Anzeichen dafür, dass die beiden Toten lediglich Kollateralschäden bei den Vorbereitungen zu einem richtig großen Coup waren.

Fiona hat gerade erst eine Ausbildungseinheit für Undercover-Agenten absolviert, und das mit eindrucksvollem Erfolg,  denn wie sich schnell herausstellt, fällt es ihr aufgrund ihrer psychischen Disposition sehr leicht, in verschiedene Undercover-Rollen zu schlüpfen. Unter dem Decknamen Fiona Grey wird sie so zu einer Reinigungskraft aus prekären Verhältnissen, die ihrer „Legende“ nach wegen einer Vorstrafe und auf der Flucht vor ihren gewalttätigen Freund in London untergetaucht ist. „Fiona Grey“ wird in die Buchhaltungsabteilung eines betroffenen Unternehmens eingeschleust und erregt schon bald die Aufmerksamkeit der Betrüger, die sie mit psychologischem Druck dazu zwingen, sie bei ihrem verbrecherischen Treiben zu unterstützen. Fiona weiß, dass ihr Leben auf dem Spiel steht, doch die Grenzen zwischen ihren Persönlichkeiten werden zunehmend fließend, und ihre Beziehung zum Sicherheitschef der Bande wird gefährlich intim. Nur Fiona Griffiths kann das ultimative Verbrechen verhindern, doch was will Fiona Grey?

Harry Bingham, Fiona. Als ich tot war. Rowohlt, 2017

(Auszug aus meiner Rezension. Lesen Sie mehr im Krimiscout)
Alf Mayers hymnische Besprechung und sein Interview mit mir lesen Sie hier

 


Coverfoto (Beitragsbild) © Rowohlt Verlag