Cover "Eine fast perfekte Ehefrau" Jonathan Evison, übersetzt von Andrea O'Brien

Jonathan Evison: Eine fast perfekte Ehefrau

Belletristik, Belletristik, Romane

Im Mittelpunkt der Handlung steht die achtundsiebzigjährige Titelheldin Harriet Chance, die sich nach dem Tod ihres Mannes mehr schlecht als recht durch den Alltag kämpft. Durch einen Anruf erfährt sie, dass ihr Mann vor seiner Demenzerkrankung zwei Fahrkarten für eine Kreuzfahrt nach Alaska ersteigert hat, die nun eingelöst werden müssen. Kurzerhand beschließt die Seniorin, die Reise zusammen mit ihrer Freundin Mildred anzutreten. Doch kurz vor der Abfahrt sagt Mildred plötzlich ab und drückt der Freundin stattdessen einen Brief in die Hand. Nach einigem Zögern beschließt Harriet, allein zu reisen. Aber so allein ist sie gar nicht. Ihr Mann will sie trotz seines Ablebens einfach nicht in Ruhe lassen, und Tochter Caroline will ihre Mutter unbedingt begleiten – obwohl das Verhältnis der beiden zerrüttet ist. Mildreds Brief konfrontiert Harriet schließlich mit einer Wahrheit, die das mühevoll aufrechterhaltene Kartenhaus ihres Lebens zum Einstürzen bringt. Und so wird diese Reise zu einer Abrechnung mit ihrer Vergangenheit.

Schon der Titel verweist auf Evisons ungewöhnliche Erzählweise. Angelehnt an die in den Fünfziger- und Sechzigerjahren in den USA beliebte Fernsehshow „This Is Your Life“ – in Deutschland unter dem Namen „Das ist Ihr Leben“ bekannt – präsentiert Evison den Lesern scheinbar zufällig gewählte Ausschnitte aus dem Leben seiner betagten Heldin Harriet Chance. Diese Episoden sind in die linear erzählte Haupthandlung eingeschoben und zeichnen sich nicht nur durch den teils jovialen, teils despektierlichen und gelegentlich gewollt anstrengenden Ton, sondern vor allem durch die mitunter kapitellange, direkte Ansprache an die Protagonistin aus. Geschickt evoziert Evison durch einen allwissenden Erzähler die Illusion eines Fernsehmoderators. Diese Erzählstimme aus dem Off lullt die Protagonistin mit Klischees und einem unverfänglichen Plauderton ein und fällt so anscheinend auf deren Lebenslügen herein. Doch das täuscht: immer wieder sabotiert er den schönen Schein mit hintergründigen, ironisierenden Anwürfen oder konfrontiert die Heldin unerwartet mit bissigen Fragen. Und doch bieten diese atemlosen Passagen einen geradezu tröstlichen Kontrast zur lakonisch vorgetragenen Gegenwartshandlung, in der die im wahrsten Sinne des Wortes kreuzfahrende Heldin mit diversen Katastrophen konfrontiert wird. In diesen aus der Figurenperspektive erzählten Kapiteln zeichnet der Autor feine Stimmungs- und Charakterbilder, die er mit vielsagenden Dialogen untermauert. In den austarierten Miniaturen entfaltet jedes Wort eine Wirkung.

In der deutschen Übersetzung gilt es nicht nur, die Dialoge mit allen Zwischentönen zu erfassen, sondern auch, die feinsinnigen Schilderungen in ihrer Bedeutungsfülle abzubilden, ohne die Sätze zu überfrachten. Wie ein Archäologe trägt Evison die Schichten aus liebgewonnenen Ausreden, Lebenslügen und Geheimnissen seiner Heldin ab und arbeitet sich so nach und nach zu ihrem Kern vor. Mit viel Feingefühl balanciert er dabei auf dem schmalen Grat zwischen Larmoyanz und Ironie, bleibt seiner Heldin aber stets liebevoll verbunden. Diese Faktoren erfordern neben großem Einfühlungsvermögen seitens der Übersetzerin eine gehörige Portion Sprachwitz, unter anderem, um der für den Autor typischen Situationskomik und seinem schrägen, bisweilen pechschwarzen Humor gerecht zu werden.

Die Übersetzerin wurde 2016 für ihre Arbeit mit dem Arbeitsstipendium des Freistaats Bayern ausgezeichnet.

Die Jury würdigte das Übersetzungsvorhaben aufgrund des souveränen Umgangs mit dem Text: „Andrea O’Brien gelingt es, in herausragender Weise die feinsinnigen Stimmungs- und Charakterbilder des Textes, Zwischentöne der Dialoge sowie die für den Autor typische Situationskomik und seinen Sprachwitz zu erfassen. Der flüssige Duktus sowie die hohe Sprachsicherheit der Übersetzerin lassen den Text wie aus einem Guss wirken.“ Darüber hinaus gehe Andrea O‘Brien immer wieder übersetzerische Wagnisse ein.

Jonathan Evison, Eine fast perfekte Ehefrau. Kiepenheuer & Witsch, 2017


Coverfoto (Beitragsbild) © Kiepenheuer & Witsch